An einem hitzeflirrenden Augusttag flaniere ich über den Bauhaus Campus Berlin und bekomme zum ersten Mal im Leben Tiny Houses in natura zu sehen. Tiny Houses sind circa 10 mal 2 qm² große transportable Häuschen, in denen Menschen nomadisch leben können. Initiatoren des Projekts, das mit der Bau- und Bildungskultur in Deutschland experimentiert, sind der Architekt und Aktivist Van Bo Le-Mentzel und sein Kollektiv Tinyhouse University.
Minimalistisches Wohnen
Die Ideenvielfalt ist großartig: Auf der Terrasse des strahlend-gelben Tiny Tea House, einem ehemaligen Futtersilo mit Ausblick, wird Eistee serviert. Die 35KubikHeimat breitet ihre Wohnflügel aus und wird zur Bühne für eine 1-minütige minimalistische Shakespeare Aufführung. Das von Matthias Gorenflos konzipierte FlowerHouse ist eine aufblasbare abstrakte, weiße Konstruktion auf Rädern, die auf nur 3 mal 2 qm² Grundfläche Platz zum Wohnen bietet. Van Bo Le-Mentzel selbst hat unter anderem das 1 m² Bauhaus-Archiv entworfen und zusammen mit Kindern und Geflüchteten umgesetzt – steckt man mehrere 1 m² Bauhaus-Archive ineinander, entsteht ein Schlafplatz. In einem Schaufenster kann zusätzlich Ware ausgestellt werden. Der „Tinymalismus“ ist geboren: Die Grundbedürfnisse Arbeiten und Wohnen werden auf den Punkt und unter ein Dach gebracht.
Aktivismus für ein besseres Leben
Van Bo Le-Mentzel ist mit noch weiteren nachhaltig-sozialen Projekten in die Öffentlichkeit getreten, etwa den nachhaltig produzierten und durch Crowdfunding realisierten Karma Classics und den Hartz IV Möbeln, deren Bauanleitung kostenfrei heruntergeladen werden kann.
Nach einem ästhetisch ansprechenden Mittagessen in der Bauhausarchiv Mensa interviewe ich Van Bo und erfahre im Gespräch mehrere Twists, die mich ordentlich aus der schönen Katja-in-Wonderland-Welt raus katapultieren. Lies selbst!

Kunstvoll Drapiertes im Bauhausarchiv
Netzknüpferei: Wie bist du mit den Themen Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit in Verbindung gekommen? Was ist deine Motivation? Dein Warum?
Van Bo Le-Mentzel: Das ist interessant, dass du die Frage stellst, ich bin ja aus Laos und für Menschen aus Laos stellt sich die Frage nicht. Weil, es ist sehr existenziell. Leute aus Laos oder aus Afrika etc., die kommen ja nicht einfach rein nach Europa. Für uns ist die Frage allgegenwärtig, warum die Welt so ungerecht ist. Es gibt gar keine Wahl. Leute wie ich müssen sich damit auseinandersetzen, was gerecht ist und was nicht gerecht ist. Und warum es diese Ungerechtigkeit gibt, dass Menschen, die hier geboren werden oder einen deutschen Pass haben, Zugang haben zu frischem Wasser, zu Jobs, zu Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit usw. und Leute die halt außerhalb von Europa oder Deutschland geboren werden, keinen Zugang zu diesen Dingen haben.
Netzknüpferei: Das stellt natürlich meine Perspektive infrage. Im Prinzip befrage ich dich aus einer „Luxusperspektive“ heraus.
Van Bo Le-Mentzel: Genau. Viele Journalisten, die hier in Deutschland arbeiten, wissen gar nicht, wie es ist, nicht zu wissen, wo man hingehört, oder ob man hier bleiben darf, oder ob die Familie hierher kommen darf … Deshalb könnt ihr euch aussuchen, mit welchen Themen ihr euch beschäftigt. Aber Leute, die halt sonst in der Gosse leben oder sich in Laos vor irgendwelchen Regimes hinknien müssen, die müssen sich jeden Tag damit beschäftigen: Wie komme ich an ein besseres Leben.
Tiny Houses: Kunst oder Realität?
Netzknüpferei: Du bist ja einerseits Aktivist, aber auch Künstler und Architekt. Was für eine Rolle spielt die Kunst, die Ästhetik für dich?
Van Bo Le-Mentzel: Na, in Deutschland ist ja die Lehre und die Kunst frei, nach dem Grundgesetz. Und es ist gut, dass das so ist. Dadurch können Spinner wie ich so was einfach ausprobieren, ohne dass ich dafür im Gefängnis lande. Zum Beispiel sehr kleine Räume bauen oder behaupten, dass Produktion gerecht sein muss und Kinderarbeit nicht passieren soll. Oder selbst Schuhe produzieren. Oder meinen, Bildung sollte so sein, dass Kinder nicht krank werden. Das sind alles Dinge, die man machen kann, wenn man sagt, das ist Kunst. Ich bezeichne mich selbst nicht als Künstler. Aber die Sachen, die wir machen, deklarieren wir sehr oft als Kunst, zum Beispiel den Campus hier, und dann sind wir frei.

Minimalist Joachim Klöckner besichtigt das Tiny Flowerhouse: „Könnte ich darin leben?“
Netzknüpferei: Ist ein Transfer der Tiny Houses in die Realität geplant?
Van Bo Le-Mentzel: Es ist andersrum – das hier ist alles Realität und wie bekommen wir das in die Kunst? Es leben ja schon Leute hier. Derjenige, der ein Haus braucht, baut es und der baut es nicht nur so aus Spaß, sondern der will damit was machen. Entweder arbeitet er drin, wohnt da drin oder er stellt irgendetwas aus. Es ist schon Realität, nur wir versuchen die in diesen Kunstrahmen reinzuzwängen.
Netzknüpferei: Das Ganze findet im Rahmen der TinyHouse University statt, als Projekt, das also begrenzt ist. Was passiert danach mit den Häusern?
Van Bo Le-Mentzel: Die TinyHouse University ist letztendlich eine Facebook-Gruppe, die ich mal gegründet habe. Mit Leuten aus dem Irak, Ägypten und Syrien; und wir beschäftigen uns einfach mit Raum, vor allem mit Wohnraum. Weil, viele finden keine Wohnung hier in Berlin. Das ist nicht nur das Problem von Geflüchteten, das ist ein allgemeines Problem. Man findet einfach keine Wohnung, die unter 500 Euro kostet. Ich bin der Meinung, das muss nicht so sein. Wir können jetzt eine Stadt machen, in der es Wohnungen unter 500 Euro gibt. Es gibt mehrere Wege dahin, aber ein Weg ist, dass wir die Wohnung kleiner machen. Und das probieren wir hier aus. Ein anderer Weg ist, dass man komplett über Wohneigentum oder Land- und Grundeigentum und öffentlichen Raum nachdenkt. Tiny Houses sind ja auf Anhängern und können demnach, wie Autos auch, auf Straßen stehen, ohne eine Baugenehmigung haben zu müssen. Das ist für uns eine ganz schöne juristische Freizone.
Netzknüpferei: So lange sich Objekte also bewegen, ist das okay? In Deutschland gesetzlich bestimmt trotzdem schwierig, für längere Zeit irgendwo ein Tiny House aufzustellen?
Van Bo Le-Mentzel: Also, in allem, was in Deutschland nicht als Wohnung deklariert ist, z.B. einem Ferienhaus, Schrebergartenhäuschen, einem Schiff, Campingwagen, Atelier, Schloss, ist das Wohnen verboten. Das gilt natürlich auch für Autos und für Tiny Houses. Das Problem ist allgemeiner und hat nicht unbedingt was mit Tiny Houses zu tun.
Netzknüpferei: Wäre es also theoretisch illegal, wenn sich der politische Rahmen nicht ändert?
Van Bo Le-Mentzel: Na ja, ich würde nicht sagen, dass Schrebergärten illegal sind – Leute wohnen ja tatsächlich da drin. Es wird halt geduldet und es gibt eine Kultur der Schrebergärten, die allgemein anerkannt ist, niemandem was wegnimmt, niemandem wehtut. Da gibt es keine Kläger, und wo es keine Kläger gibt, gibt es auch keine Richter. Das Gleiche erhoffe ich mir für die Tiny Houses. Wenn die halt auf Parkplätzen stehen, wo es niemanden stört …
Zum Teil 2 des Interviews: Von Prosumenten und Crowdfunding