Es ist ja so eine Sache mit Labels. Wir drücken komplexen Sachverhalten und Individuen einen Stempel auf, weil unser Gehirn gern in Schubladen denkt und wir uns auf diese Weise besser orientieren können. Nicht zu vergessen: Hübsch Etikettiertes verkauft sich besser. Minimalismus funktioniert in diesem Sinne als Marke. Doch dahinter steckt mehr.
Minimalismus klingt irgendwie nobel, viele verbinden damit eine cleane Ästhetik à la weniger ist mehr. Aber damit verbunden ist eine tiefer greifende Philosophie. Reduktion bedeutet, Dinge zu vereinfachen, sich der einen Sache anzunähern, die gegenwärtig wichtig ist. Das kann sich auf bestimmte Gegenstände beziehen, aber auch emotional oder sprachlich manifestieren. Minimalist wirst du also nicht mit einem Fingerschnipp, sondern indem du einen Prozess durchläufst. Der Prozess ist entscheidend.
Weg von der Ideologie, hin zum Wohlbefinden

Joachim Klöckner und das komprimierte Tiny Flower House auf Rädern
Joachim Klöckner optimiert sein Leben seit gut dreißig Jahren. Im Mai 1986, nachdem „Tschernobyl in die Luft flog“, begann der ehemalige Maschinenbauer, sein Leben zu verändern und wurde Energieberater für Unternehmen. „Die ersten Jahre war ich sehr ideologisch unterwegs, die Welt retten und sowas … dann wurde ich zehn Jahre lang pragmatisch und hab mehr ausprobiert. Das passte gut zu meinem Beruf: Alle Unternehmen sind unterschiedlich. Ich musste gucken, wie jedes pragmatisch zu optimieren geht.“ Parallel dazu setzte er diesen Pragmatismus auch in seinem Privatleben ein und reduzierte seinen Konsum. Seit einiger Zeit nun stehen der Mensch und dessen Wohlbefinden für ihn im Mittelpunkt.
Im Gespräch sitzt er mir am Lausitzer Platz in Kreuzberg auf einer Parkbank gegenüber. Dorthin sind wir übergesiedelt, weil die vielfältigen Geräusche im anvisierten Eiscafé sich als eher weniger minimalistisch erwiesen. Joachim trägt sein „Markenzeichen“: einen weißen Einteiler. Dieser ist Teil der rund 55 Gegenstände, auf die der Minimalist sein Hab und Gut reduziert hat. Zurzeit probiert er, seine Kleidung zu optimieren: „Da bin ich zu diesen Overalls gekommen und hab einfach Arbeitsanzüge genommen, Ärmel, Beine und Kragen abgeschnitten und plane jetzt meinen eigenen Stil. Ich nenne die Mono. Das heißt im Spanischen Overall, auch Affe und schön. „Affe“ in Bezug auf die Bekleidung macht mir einfach Spaß. Damit verbinde ich die Möglichkeit selbst zu sein, Lebenslust und Rumtollen.“ Dazu trägt er gelbe T-Shirts, weil die in der Waschmaschine nicht abfärben und ressourcenschonend in einer Wäscheladung mitgewaschen werden können.
„Wenig tote Gegenstände erlauben mir viel Zeit, Raum und Energie für Lebendiges.“
Ich frage Joachim, ob Minimalismus anstrengend ist. Seine Antwort: „Am Anfang ja, weil du aus der Gewohnheit rausgehst. Die Anstrengung, wenn man sich Dinge anschafft, liegt darin: Wie kann ich sie multifunktional nutzen? Damit ich für dasselbe Geschehen nicht zwei Gegenstände brauche, statt nur einen. Da ist zum Beispiel ein IPad wunderbar, weil ich damit unheimlich viel machen kann. Da kannst du Bilder und Bücher aufbewahren, du hast Fotos, Filme, Dokumente und kannst mit der Welt sein. Ich könnte so nicht leben, wenn ich dieses Ding nicht hätte. Anstrengend ist es deshalb, weil du überlegen und mitdenken musst. Du musst nachspüren.“

Achtung, jetzt kommt ein Tiny Flower House!
Was sich wie ein roter Faden durch Joachims Überlegungen zieht, ist dieses Prozesshafte des Minimalismus. Improvisieren und probieren, bis er sich mit dem Ergebnis wohlfühlt: „Es ist komplex, eine Lernerfahrung und ein inneres Wachstum dabei.“ Der Minimalismus sei aber kein Tool zur Reduktion, sondern „ein Instrument, sein Leben zu gestalten. Und allein dadurch werden die Dinge weniger. Dadurch, dass man bewusster lebt und Entscheidungen trifft. Das ist auch bei mir so aufgetaucht.“
Vorleben statt Vorgeben
Joachim Klöckner ist besonders wichtig, das Ganze spielerisch anzugehen und nicht dogmatisch zu werden: „Ich möchte kein Lehrer sein mit erhobenem Zeigefinger. Ich will einfach nur zeigen, was geht. Und das ist auch was wirkt!“ Ihm geht es nicht um rationale Belehrung, sondern um das emotionale Vorleben von Wohlbefinden. Als Inspiration für andere, ihr Leben selbst zu gestalten. Er möchte kein Coach sein, sondern Impulsgeber. In Workshops vermittelt der Minimalist seine Ideen und Eindrücke dialogisch. Auch Vorträge hält er nicht klassisch frontal, sondern geht ins Publikum und spricht mit den Leuten. Der erhobene Zeigefinger – das habe schon in der Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung der 80er und 90er Jahre nicht geklappt. Nachhaltig würden die Menschen nur leben, wenn sie sich damit wohlfühlten. Dabei helfe die Aktivierung unseres körpereigenen Motivationssystems.
Mehr Lebensqualität durch Minimalismus
Der Minimalismus trägt Joachims Meinung nach in dreifacher Hinsicht zur Lebensqualität bei:
- Mehr Selbstsein – ich gestalte mein Leben. Und zwar jenseits des Mainstream. Das heißt also: Es tut mir gut. Ich fühle mich wohl, wenn ich mein Leben selbst gestalte.
- Es macht die Menschen bewusst. Wir fangen an darüber nachzudenken, was das eigene Leben für einen Einfluss auf die Mitwelt hat.
- Es tut der Mitwelt gut. Durch das, was mit Nachhaltigkeit verbunden ist, mit Ressourcen, mit Abfall- und Energieproblematik.
Leben im Tiny House

Das Tiny Flower House von Matthias Gorenflos in voller Blüte
Joachim lebt nomadisch und packt seine 55 Sachen gern mal in seinen Rucksack und wechselt den Wohnort. Wohl nicht gerade für den Winter, aber vielleicht für nächstes Jahr, plant er ein neues minimalistisches Experiment. Vor kurzem besuchte ich den Campus des Berliner Bauhaus-Archivs, wo Karma-Ökonom Van Bo Le-Mentzel der Öffentlichkeit neue Tiny Houses vorstellte – transportable Mini Häuser, die mit dem wichtigsten ausgestattet sind, was man zum Leben braucht. Joachim möchte dort ins FlowerHouse einziehen, eine pneumatische (aka aufblasbare) Konstruktion in Form einer minimalistisch stilisierten Blume. Entworfen vom Architekten Matthias Gorenflos. Noch gibt es keine konkreten Pläne über den Einsatz von Tiny Houses in Deutschland. Doch Joachim hat eine Vision … „Stell dir mal ein Parkhochhaus vor. Mit fünf Metern Höhe pro Deck. Und statt parkenden Autos stehen dort Tiny Houses. Da gibt’s dann Schächte, wo Licht reinkommt etc. Wenn wir dort die drei (Wohlfühl-)Qualitäten wieder mit einbringen: Selbstsein, indem wir unser eigenes Haus haben. Verbundensein, indem wir in einer Gemeinschaft leben. Und zum Kooperieren bräuchten wir Flächen, wo wir zusammen spielen, kochen, lernen, was auch immer machen. Und das in der Stadt, denn die Stadt hat den Vorteil dieser Vielfalt von Angeboten, die du auf dem Land nicht hast.“
Mehr von Joachim Klöckner wird‘s im Frühjahr 2018 geben. Da erscheint sein Buch „Der kleine Minimalist“ im Ecowin Verlag. Ich bin gespannt!
Let’s play: Lasst uns was machen! Die „Spielidee“ des Tages stammt von Joachim: Schreibe dir alle Teile im Keller oder in deiner Rumpelkammer auf, die du seit einem Jahr nicht benutzt hast und überlege, wo sie anderswo sinnvoller eingesetzt werden können. Wem kannst du damit was Gutes tun?
Tiefer einsteigen: Joachim Klöckners Wohlfühl-Theorie (Blogbeitrag)
Buchtipp: „Der kleine Minimalist“ Von J. Klöckner (Januar 2018)